Müssen wir eigentlich wirklich andauernd jede Diskussion immer wieder ganz von vorne beginnen, wenn es um verkehrspolitische Entscheidungen geht? Diesen Eindruck muss man leider gewinnen, wenn man die lokale Verkehrspolitik verfolgt.

Jede einzelne Maßnahme, die zu Gunsten des Umweltverbunds aus ÖPNV, Rad- und Fußverkehr geht, wird zuerst grundsätzlich hinterfragt: Könnte irgendwie der motorisierte Individualverkehr (MIV) betroffen sein?

Diese potenzielle „Betroffenheit“ steht kategorisch über allem und steckt die Grenzen ab, innerhalb derer wir diskutieren. Und damit auch den praktischen Handlungsspielraum… Maßgebend ist dabei stets der Status quo, also das was wir haben (bspw. jede Menge Parkraum für private Pkw), nicht das, wo wir mal hin wollen (wenigstens gleichberechtigte Verhältnisse für alle Verkehrsmittel, am liebsten aber die „besondere Förderung des Umweltverbunds“ aus allem was kein Pkw ist).

Anschließend wird unter der Prämisse „immer möglichst wenig negative Beeinflussung des MIV“ die Arena freigegeben für das (mehr oder weniger) öffentliche Ringen um sogenannte „Kompromisse“. Und dabei gibt jeder Parkplatz und jeder einzelne Zentimeter Pkw-Fahrbahn immer wieder Anlass zu den immer wieder gleichen Grundsatz-Diskussionen.

Die führen wir dann gebetsmühlenartig wieder und wieder – bis auch der letzte Ansatz zu einer echten Mobilitätswende im Keim erstickt, zu Tode relativiert oder ins genaue Gegenteil verschlimmbessert wurde…

LANGWEILIG!

Sind wir darüber nicht längst hinaus? Haben wir uns über die grundsätzliche Richtung der Verkehrspolitik nicht schon mehr oder weniger parteiübergreifend geeinigt? Zumindest hinsichtlich der allgemeinen Leitlinie, also der Richtung, in die es gehen soll?

Ja, haben wir! Scheint in der tatsächlichen „Realpolitik“ allerdings keine Rolle zu spielen, wenn man sich anschaut, mit welchen „Argumenten“ und anachronistischen Positionen ständig hantiert wird. Und welche „Kompromisse“ pro Pkw stets dabei herauskommen.



Dabei könnten wir uns all das Gelaber und Gejammer rund um „zu wenige Parkplätze“ und die angebliche „Gängelung der Autofahrer“ eigentlich ersparen. Und die Energie, die wir da rein stecken für eine sachliche Debatte nutzen, in der wir nicht immer wieder bei Adam & Eva anfangen und uralte Diskussionen aufwärmen und wiederkäuen. Wir könnten eigentlich mal damit anfangen, den Blick nach vorne statt nach hinten zu richten. Und mal anfangen mit der Umsetzung unserer politischen (gesellschaftlichen) Beschlüsse. (Wozu gibt es die sonst eigentlich?)

Es würde schon reichen, einfach mal das zu berücksichtigen, was wir konzeptionell und gesetzlich längst eingetütet haben:



Aber nein! Irgendwas fehlt noch. (Irgendwas fehlt immer!) Es hat noch nicht wirklich „Klick“ gemacht beim Thema Mobilitätswende und mit Blick auf die „besondere Förderung“ des Radverkehrs. Kein Paradigmenwechsel in Sichtweite und der (bevorzugt Auto fahrende) Pöbel konnte auch noch nicht angemessen „mitgenommen“ werden.

Was braucht´s denn noch?


Quelle Screenshot: EU-Kommission

Ganz klar: Es fehlt noch eine freiwillige Selbstverpflichtung der EU-Staaten! Ganz ohne Sanktionen oder fiese, linksgrünversiffte Öko-Diktatur-Fallen. Die wird der absolute und finale Game-Changer der Verkehrswende und des Green Deals sein.

Nicht, dass man das nicht auch bei jedem anderen Konzept & Gesetz (s.o.) behauptet hätte. Diesmal ist es aber so. Darauf ein badewannenfreies politisches Ehrenwort!

Das Ding nennt sich EUROPEAN DECLARATION on CYCLING und ist mal wieder der ganz große Wurf.

In der Erklärung wird das Fahrrad als nachhaltiges, zugängliches und erschwingliches Verkehrsmittel anerkannt, das einen großen Mehrwert für die EU-Wirtschaft darstellt. Sie enthält klare Verpflichtungen, wie z. B. sichere und kohärente Radverkehrsnetze in den Städten, eine bessere Anbindung an den öffentlichen Verkehr sowie sichere Parkplätze und Zugang zu Aufladestationen für E-Bikes. Diese Verpflichtungen sollen auf EU-, nationaler, regionaler und lokaler Ebene eingegangen werden. All dies sind notwendige Elemente, um die Qualität und Quantität der Fahrradinfrastruktur in den Mitgliedstaaten zu verbessern und das Radfahren für die Öffentlichkeit attraktiver zu machen.

Auf der Grundlage eines von der Kommission im Oktober 2023 vorgelegten Vorschlags und als Reaktion auf Forderungen des Europäischen Parlaments und der Mitgliedstaaten stellt die Erklärung eine gemeinsame politische Verpflichtung und einen strategischen Kompass für politische Maßnahmen und Initiativen im Zusammenhang mit dem Radverkehr dar.

EU-Kommission: Europäische Erklärung – EU verpflichtet sich zur Förderung des Radverkehrs, 03.04.2024


Wer sich den Spaß macht, die knapp neun Seiten zu lesen, wird zuerst eine Präambel genießen dürfen, die all die tollen Vorteile des Radverkehrs nochmals zusammenfassend darstellt. Und erneut wortreich betont, warum es nicht nur schön wäre, sondern sogar notwendig und geboten ist, dem Radverkehr endlich die Räume und die Qualität zu geben, die er schon längst haben sollte bzw. in einigen Vorbild-EU-Staaten inzwischen sogar schon hat (Niederlande, Dänemark…). Die Best Practice-Beispiele sind EU-intern also bereits vorhanden. Die Präambel bezieht alle möglichen Ebenen mit ein: Klimaschutz, Wirtschafts- und Sozialpolitik und so weiter.

Dann wird es konkret. Nach den zahlreichen Argumenten pro Rad folgen unzählige „Commitments“, aufgeteilt in acht Kapitel, über denen die gemeinsame Leitlinie steht:

We aim to unleash the full potential of cycling in the EU. This Declaration recognises cycling as one of the most sustainable, accessible and inclusive, low-cost and healthy forms of transport and recreation, and its key importance for European society and the economy. The Declaration should serve as a strategic compass for existing and future policies and initiatives related to cycling.

European Declaration on Cycling


Ein strategischer Kompass für aktuelle und zukünftige Verkehrspolitik und Initiativen zur Förderung des Radverkehrs also? Weil der Radverkehr so wichtig und wertvoll ist? Wow!

Und es ist mal wieder alles mit dabei. Schaut man sich nur die Kapitel-Überschriften an, unter denen sich die ganzen „Commitments“ verbergen, liest man von mehr Fahrrad-Politik, mehr Fahrrad-Infrastruktur, mehr Fahrrad-Investitionen, mehr Fahrrad-Sicherheit, mehr Fahrrad-Jobs, mehr Fahrrad-Daten und -Evaluation und vielem mehr.


CHAPTER I:
Developing and strengthening cycling policies
The EU and its Member States, together with regional and local authorities, all have a key role to play in supporting the further uptake of cycling.

CHAPTER II:
Encouraging inclusive, affordable and healthy mobility
Everyone, including people with disabilities or those with reduced mobility and irrespective of age and gender should have access to mobility, and cycling can make a major contribution to enable this. Cycling should also be affordable irrespective of income level and promoted as beneficial to mental and physical health.

CHAPTER III:
Creating more and better cycling infrastructure
Improving the quality, quantity, continuity and attractiveness of cycling infrastructure is essential to promote greater cycling use.

CHAPTER IV:
Increasing investments and creating favourable conditions for cycling: More investments are needed to unlock the potential for cycling.

CHAPTER V:
Improving road safety and security: Everyone should be able to cycle in a safe and secure manner.

CHAPTER VI:
Supporting quality green jobs and the development
of a world-class European cycling industry: Greater uptake of cycling means more high-quality, local jobs and is beneficial to the EU economy and cycling industry, and also contributes to the objectives of the EU industrial strategy.

CHAPTER VII:
Supporting multimodality and cycling tourism: Cycling should play a key role in improving multimodal connectivity and tourism, especially in combination with trains, buses and other modes, both in urban and rural
areas.

CHAPTER VIII:
Improving the collection of data on cycling: Cycling data needs to be collected in the same way across the EU to ensure effective monitoring of progress on implementation of the principles and commitments included in this Declaration.

European Declaration on Cycling



Hört sich ziemlich beeindruckend an. Zumindest solange man das nicht berücksichtigt, was eigentlich längst unsere Politik sein müsste. Denn irgendwo habe ich all das doch schon mal irgendwie irgendwann irgendwo gelesen…

Nochmal zur Erinnerung, weil man in der Praxis der verkehrspolitischen „Real-Politik“ so wenig davon mitbekommt:




Greenwashing oder Realpolitik?

Nun denn… Wir haben gefühlt 37 Strategien, beschlossene Konzepte, Gesetze, politische Verträge und obendrauf auch noch die ein oder andere mehr oder weniger verbindliche Selbstverpflichtungserklärung. Puuh – so viel kommunal-, regional-, national- und EU-politisches „Commitment“ auf einem Haufen!

Was fangen wir damit an – jetzt, wo Europawahlen anstehen, im kommenden Jahr Kommunalwahlen und wir bei uns vor Ort gerade die halbe City wegen des maroden Abwasserkanals aufreißen müssen? Führen wir weiter prä- und postfaktische Scheindebatten über den angeblich ideologisch gegängelten Autoverkehr? Mimimi-Schleife! Oder kriegen wir endlich mal den Perspektiven- und Paradigmenwechsel hin?

Vor ein paar Wochen ist die Crème de la Crème der lokalen Verkehrspolitik nach Utrecht gefahren, um mal über den Tellerrand zu schauen.



Fazit der Stadt Düren:

„Es war beeindruckend zu sehen, wie die Stadt Utrecht es geschafft hat, die Aufenthaltsqualität in der Stadt nachhaltig zu verbessern und das Fahrrad als intuitiven Standard für die meisten lokalen Wege zu etablieren.“ Dieses Fazit zog der technische Beigeordnete der Stadt Düren, Niels-Christian Schaffert, am Ende einer Exkursion nach Utrecht und Houten.

„Um die Verkehrswende in Düren voranzubringen ist es wichtig, über den Tellerrand zu blicken und von den Erfahrungen und Erfolgen Anderer lernen zu können.“ (…)

Die auf der Exkursion in die Niederlande gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse über die Einführung von Radverkehrsprojekten sollen in die zukünftigen Planungen in Düren einfließen und einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung und Akzeptanz des Radverkehrs leisten.

Best-Practice-Beispiele zur Umsetzung von Radverkehrsprojekten –
Exkursion für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung und Ausschussmitglieder in die Niederlande
Pressemitteilung Stadt Düren, 05.04.2024

Jetzt sind alle wieder zuhause in der Dürener Verkehrswirklichkeit angekommen und es stehen zahlreiche, weitreichende verkehrliche Projekte zur konkreten Beschlussfassung, Planung und Umsetzung an.



Nicht nur die oben erwähnten Umbaumaßnahmen in Folge bzw. im Fahrwasser der Kanalsanierung und diverse City-bezogene Maßnahmen im Rahmen von Masterplan, Klimaschutzteilkonzept, Innovationsquartier, Rad-Vorrangrouten-Konzeptionen, Großstadt-Träumen, Kreisbevölkerungs-Expansions-Plänen und so weiter. Da gibt es ja auch noch so Kleinigkeiten wie die eierlegende Wollmilchsau B 399n, das professionell unter Fachleuten geplante dritte Gleis Aachen-Düren, die sich explosionsartig entfaltende rheinische Nach-Braunkohle-Innovations-Seenlandschafts-Touristenmagnet-Region…

Was läge jetzt näher, als endlich mal damit anzufangen, das konsequent umzusetzen, was längst Beschluss ist und uns mit der neuerlichen EU-Doktrin wieder auf den Tisch geknallt wurde?



Wische über´s Bild…

Ach so, ja.

Wir könnten natürlich weiterhin andauernd jede Diskussion immer wieder ganz von vorne beginnen, wenn es um verkehrspolitische Entscheidungen geht.

Wir könnten immer weiter jede einzelne Maßnahme, die zu Gunsten des Umweltverbunds aus ÖPNV, Rad- und Fußverkehr geht, grundsätzlich hinterfragen, und uns ständig gegenseitig „Ideologie“ vorwerfen. So lange, bis wir uns dann irgendwann mal auf den immer kleinsten Kompromiss-Nenner „in dubio pro Pkw“ geeinigt haben.

Wird nur irgendwann ziemlich peinlich, wenn immer mehr und immer wieder upgedatete, eindeutige politische Beschlüsse und Leitlinien zwar (mehr oder weniger) medienwirksam rausgehauen aber „realpolitisch“ niemals umgesetzt werden. Das (manchmal gar nicht mal so) dumme Wahlvieh könnte sich ein wenig verhohnepiepelt vorkommen, um´s mal diplomatisch auszudrücken.



Aber ein bisschen Spaß und Realsatire dürfen natürlich auch nicht fehlen in der „Realpolitik“. Mal sehen, wie lange wir noch darüber lachen können, dass die €DU die konsequente Umsetzung von nationalen Radverkehrsplänen und die Einhaltung von Qualitätsstandards für lokale Rad-Vorrangrouten fordert, während sie gleichzeitig alle Radfahrer von den Hauptstraßen verbannen will. Oder die sPD allen Ernstes behauptet, wir hätten zu wenige Parkplätze in unseren Wohn- und Lebensquartieren – an Stellen, an denen die Gehwege dank städtisch angeordneten Pkw-Parkplätzen nur noch wenige Zentimeter breit sind.



Schade eigentlich, dass die Dürener FDP verkehrspolitisch quasi inexistent ist. Die würde den parlamentarischen Fun-Faktor bestimmt nochmal deutlich erhöhen. Und vielleicht bliebe uns das Lachen noch schneller im Halse stecken. Das wäre durchaus wünschenswert. 🥳



Noch mehr schöne Worte: