Radvorrangroutennetz oder Desire Lines?
Sprache tut auch ihren Teil. Obwohl ich kein Freund von Anglizismen bin, finde ich, hört sich “Desire Lines” doch deutlich besser an als “Radvorrangroutennetz”. Irgendwie humaner, nicht so technokratisch. Mehr nach Poesie als nach Planung. Fast so sexy wie „Berlin“ 😉

Verkehrsplanende können einem hierzulande richtig leidtun. Wenn man sich ein wenig mit dem Thema beschäftigt, bekommt man ja irgendwie zwangsweise einen kleinen Einblick in die Arbeit, mit der sich Verkehrs- und Bauausschüsse, geneigte Politiker, Fachämter, externe Planungsbüros etc. herumschlagen müssen.

Das bürokratische Dickicht ist schier undurchdringlich. Erst über meine vergeblichen Versuche, mich einmal durch Planfeststellungsbeschlüsse, Millimeterpapierzeichnungen mit kryptischen Legenden sowie Straßenbauvorschriften und -zuständigkeiten zu kämpfen, habe ich einen gewissen Einblick in und auch Verständnis für diese geheimnisvolle „Parallelwelt“ gewonnen. Auch der Versuch, die technischen Regelwerke für das Straßenwesen zusammenzufassen, macht deutlich: Hier müssen Menschen am Werk sein, die sich unglaublich viel mit diversen Normen, Gesetzen, Leitfäden, Richtlinien, Prüfvorschriften, Verordnungen technischen Handbüchern etc. beschäftigt haben und ständig professionell beschäftigen müssen. Wären es ITler würde man wahrscheinlich von „Nerds“ sprechen.

Was macht das mit einem Beamten? So auf Dauer – wenn man ständig in Normen und Verfahren denkt (denken muss)? Besteht da vielleicht ein wenig die Gefahr, über das Kleinteilige, über die ewige, professionelle Detailversessenheit und über bürokratische Verfahren hinweg das eigentlich Wesentliche in der ganzen Planung zu übersehen? Die Menschen, für die die Planungen eigentlich gemacht werden!

Wenn ich ständig an Dinge wie Pollerdurchmesser, Mindestabstände, Maximalbreiten, Zwangspunkte, Höhenplanelemente, tiefbautechnische Einbauten und so weiter und so fort denken muss – kann es sein, dass mir dann im Laufe meiner Beamtenzeit ein wenig der Blick auf´s Ganze abhanden kommt?

Wäre ja theoretisch auch nicht Job der Fachämter, sich den Kopf über grundsätzliche Konzepte und innovative Struktur-Maßnahmen zu zerbrechen. Dafür hat ja eh nur die Politik ein Mandat. Kein Beschluss, kein Bedarf.

Allerdings sieht das natürlich etwas anders aus, falls doch mal irgendwas beschlossen wird. siehe unten. Dann *hüstel* ist die Verwaltung plötzlich gar nicht mehr so machtlos und willfährig den Beschlüssen der politischen Mandatsträger gegenüber.

Dann werden halt doch wieder tausend gute techno-bürokratische Gründe dafür gefunden, dass…

  • keine Einbahnstraßen für Radfahrer freigegeben werden können,
  • die versprochenen Fahrradstraßen allesamt nicht gebaut werden,
  • die platz-fressenden Abbiegespuren für den Pkw-Verkehr in der Innenstadt grundsätzlich beibehalten werden,
  • weiter Straßen wie wild mit Farbe bepinselt werden anstatt endlich sichere, separate Radwege zu planen und zu bauen,
  • Pkw-Parkplätze einen schon fast religiösen Stellenwert erhalten,
  • qualitativ möglichst hochwertige Pkw-Fahrbahnen erhalten (oder neu gebaut werden) wo immer möglich,
  • außer dem „Stadtradeln“ keine Öffentlichkeitsarbeit zu finanzieren, geschweige denn zu rechtfertigen ist,
  • man sich die Verkehrswende doch bitte endlich mal grundsätzlich abschminken sollte!

Wie war das nochmal mit dem Primat der Politik?
Ist da nicht mal so ein „Klimaschutzteilkonzept“ beschlossen worden? Das drehte sich irgendwie darum, wie die städtische Verkehrsplanung zukünftig (also heute!) aussehen soll. Ist ja inzwischen auch schon wieder fünf Jahre alt, das gute Stück Expertenarbeit.


Hier in seiner ganzen Schönheit.

Siehe auch:
Klima- (und menschen-) freundliche Mobilität,
Klimaschutz-Teilkonzept Teil 2,
Politische Ziele und wissenschaftliche Erkenntnisse? Beschlossen und ignoriert!.

Und wollte Düren (Stadt) nicht mal Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW (AGFS) werden? Wie ist da eigentlich so der Stand der Dinge? Hört man gar nichts von… Oder ist das generelle Ziel der AGFS nicht (mehr) mit der städtischen Verkehrspolitik vereinbar? Oder haben die tatsächlichen Maßnahmen der vergangenen Jahre (Schutzstreifen-Offensive!) den Kriterien für die Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. (AGFS) noch nicht genügt?

“Generelles Ziel der AGFS ist es, Kommunen mit einer hohen Lebens- und Bewegungsqualität zu gestalten. Solche Städte, Gemeinden und Kreise zeichnen sich nicht allein durch eine hohe Erreichbarkeit und Zugänglichkeit für alle Verkehrsmittel aus, sondern haben insbesondere optimale Bedingungen für Nahmobilität, Nahversorgung und Naherholung. Daraus folgt, die Gruppe der nicht motorisierten Verkehrsteilnehmenden als Ganzes besonders zu fördern. Dabei ist der Fußverkehr für kürzere Entfernungen bis zu ca. anderthalb Kilometern oft die schnellste Verkehrsart, während das Fahrrad bzw. das Pedelec innerhalb der Gruppe der nicht motorisierten Verkehrsarten die Fortbewegungsmöglichkeit mit dem weitesten Aktionsradius und nahezu universell einsetzbar ist.

Der von der AGFS geprägte Begriff Nahmobilität steht für aktive und muskelbasierte Fortbewegung zu Fuß, mit dem Fahrrad, dem Pedelec oder anderen bewegungsaktivierenden Fortbewegungsmitteln, wie z. B. Inlinern, Skate- und Kickboards, aber auch Rollatoren und Rollstühlen.

Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft verstehen sich nicht nur als „fußgänger- und fahrradfreundliche Städte, Gemeinden und Kreise“, sondern darüber hinaus als Modellkommunen für eine zukunftsfähige, ökologisch sinnvolle und verträgliche Mobilität für die Menschen in der Stadt. Sie unterstützen deshalb alle Maßnahmen, die die Stadt als attraktiven Lebensraum stärken.

Quelle (ohne Hervorhebungen): Kriterien für die Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. (AGFS)

Aber zurück zum eigentlichen Thema, in dem wir ja schon mittendrin sind:

Designen anstatt Planen

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir grundsätzlich andere Planungsansätze brauchen, um endlich mal einen echten Schritt nach vorne zu machen in Richtung der allerseits ach so sehr gewünschten Verkehrswende. Weg vom motorisierten Individualverkehr in unseren Innenstädten hin zu mehr menschenfreundlicher Nahmobilität funktioniert nicht mit althergebrachten Modellen und Verfahren aus der Steinzeit der Verkehrsplanung. Vor allem nicht mit diesen Modellen in den Köpfen und Werkzeugkästen der entscheidenden Menschen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Und erst recht nicht, wenn der Fisch schon vom Kopf her stinkt.

Wo sind sie, die einer „Modellkommune“ würdigen Vorstöße für die innovative Förderung des Rad- und Fußverkehrs? Damit sind doch nicht etwa die einheitlichen Pflastersteine in der Dürener Innenstadt gemeint, oder? Vielleicht die zwei Quadratzentimeter großen Aufstellflächen vor manchen Ampeln, die uns Radlern nichts nützen, weil immer Autos drauf stehen? 350m PBL? Aufgepimpte Mehrzweckstreifen? Radwege, in die man nicht einbiegen darf? Neue Umgehungsstraßen durch die City?
Kann nicht sein!


Nicht kleckern, sondern klotzen!

Ich dachte wir krempeln gerade die gesamte City im Rahmen des Masterplans Innenstadt einmal von rechts auf links (oder von links auf rechts, für wen sich das besser anhört) und haben seit 2015 im beschlossenen Konzept „Klimafreundliche Mobilität in Düren“ schwarz auf weiß etliche gute Maßnahmen stehen (bzw. teuer erarbeiten lassen). Hmm, kann man das nicht irgendwie kombinieren? Wäre das nicht sogar ziemlich naheliegend? Oder war das nicht etwa so gewollt? Verfolgen die beiden Konzepte nicht irgendwie auch das gleiche Ziel? Eine lebenswertere Innenstadt?

Ich glaube hier wurde und wird gerade eine große Chance vertan. Mitten im Strukturwandel (Kommentare zum gestern beschlossenen Kohleausstiegs- und Strukturstärkungsgesetz nicht im radpendler-Blog), in Zeiten von StVO-Novelle (äh – vielleicht schlechtes Beispiel im Moment. LOL), Nationalem Radverkehrsplan, Fahrradgesetz NRW *hüstel* und Klimawandel (Nebenthema), glauben wir immer noch, mit Trixi-Spiegeln, Schutzstreifchen und einmal Stadtradeln pro Jahr die Verkehrswende zu meistern? Ernsthaft?

Immer wieder muss man fragen, warum uns der Mut fehlt, die eigenen Ziele auch mal sachgemäß und konsequent in Angriff zu nehmen. Die bisweilen verständliche Feigheit gerät in der Außenwahrnehmung immer mehr zur echten Peinlichkeit.

Und immer wieder muss man sagen: Es ist alles umso peinlicher, da uns die Best-Practice-Beispiele von allen Seiten um die Ohren gehauen werden. Während die Nachbarn im Westen ihre Radlerampeln mit Induktionsschleifen koppeln, die Nachbarn im Norden futuristische Fahrrad-Brücken und -Parkhäuser bauen und ihre Innenstädte erfolgreich autofrei bekommen – was machen wir? Wir bauen eine „Umgehungsstraße“ *hüstel* mitten durch die Stadt! Und verkaufen das als fahrradfreundlich, weil es ja den Verkehr aus der Innen-Innenstadt irgendwie rauszieht.

Ach, die Pläne sind schon ungefähr 300 Jahre alt und wären nach heutigen Standards absolut undurchführbar? Unsere Nachbarn lachen uns aus?
Naja, aber was man hat, das hat man. Nächstes mal machen wir es vielleicht ein bisschen moderner. Unsere Innenstadt planen wir ja bestimmt demnächst eh mal wieder komplett neu um.

Wie, es gibt noch gar kein Fahrradkonzept für Düren – äh Radvorrangroutenkonzept? Ach so, lass uns erstmal die Kommunalwahlen abwarten. Je nachdem hat sich das damit ja dann eh erledigt. Falls nicht, holt Euch doch diesen netten Herrn mit ins Planungs-Team.

Mikael Colville Andersen – Foto: Fernando Mafé / CC BY-SA / wikimedia

Herzliche Einladung nach Düren!


Aber Vorsicht! Der kommt auf so waghalsige Ideen, wie auf Menschen und ihre Bedürfnisse zu achten. Oder gar Räume und Wege nach menschlichen Bedürfnissen zu gestalten, anstatt sie am Reißbrett aus Pkw-Sicht zu entmenschlichen.

Ich glaube einfach nicht mehr wirklich daran, dass unser aktuelles Verkehrsplanungssystem in der Lage ist, die notwendige „Leidenschaft“, Konsequenz, Überzeugungskraft und Geschwindigkeit zu entwickeln, die unbedingt notwendig wären, um vielleicht gerade noch die Kurve zu kriegen, bevor der jetzige Umbau wieder Geschichte ist und uns der Klimawandel bald zu noch viel drastischeren Maßnahmen zwingt.

Dazu bräuchten wir eher mutige Menschen mit Ideen, Haltung und Empathie. Und die auch noch an den richtigen Stellen. Leute, die auch mal „neu“ denken und sich trauen, mal etwas Unkonventionelles oder Innovatives auszuprobieren. 378,34m PBL-Teststrecke. LOL!

Video-Exkurs


„Radikal“ denken, um mal minimal zu handeln…
Hermann Knoflacher: »Menschen lieben ihre Autos mehr als ihre Kinder«


Hermann Knoflacher: „Die Verkehrswende beginnt im Kopf“


Klimaherbst 2013: Prof. Dr. Herrmann Knoflacher „Anstöße zum Umdenken in Zeiten des Klimawandels“


Colville Andersen: Bicycle Culture by Design


Colville Andersen: The Life Sized City


Oft bräuchte man eigentlich gar keine Experten wie Colville Andersen oder Knoflacher, van Duren und wie sie alle heißen, sondern könnte sich das Prinzip zu eigen machen: Einfach mal auf die Bürger hören und sich anschauen, was deren Bedürfnisse sind und wo deren Schuhe drücken.

Man denke nur an die guten alten Trampelpfade! (Hierzu an anderer Stelle (Ortseingang Birkesdorf) mal mehr… Die sind doch mal gelebte Verkehrsplanung vom Nutzer aus! Das Motto dahinter: Ermöglichen anstatt Verhindern!

Warum lassen wir uns in Deutschland immer noch von techno- und bürokratischen „Zwangspunkten“ beirren und stellen Risikofolgenabschätzungen über alles, anstatt mal etwas auszuprobieren? Waren wir nicht mal das Land der Ingenieure, der Dichter und Denker? Kommt schon! Ihr wisst doch noch: „Made in Germany“, „Innovation Nation“ und so!

Und wenn es schon nicht alleine klappen will, dann lasst uns das doch einfach eingestehen. Ist zwar hochnotpeinlich, aber es gab schon größere Schanden in unserer Geschichte, als jetzt sagen zu müssen: OK, Niederländer, Belgier, Dänen, Franzosen und so weiter – wir schaffen es leider nicht alleine. Dürfen wir uns bei Euch mal etwas abgucken oder mal mit ein paar Leuten von Euch sprechen, damit wir es auch verstehen? Könnt Ihr uns mal ein paar Links schicken?

Aber vielleicht ist ja gar nicht das Verstehen das eigentliche Problem, sondern das Wollen? Ein Schelm, wer sich wundert, warum in Zeiten, in denen Millionen Fördermittel für Strukturwandel und Fahrradförderung bereit liegen, in Zeiten des innerstädtischen Komplett-Umbaus, in Zeiten von Corona und Klimawandel, FridaysForFuture usw. immer noch in uralten Mustern gedacht, geplant und gebaut wird.

Das kann auf keinen Fall an parteipolitischen Spielchen liegen oder an irgendwelchen Interessenkonflikten, lobby-getriebenem Einknicken oder so, denn wie man so hört, sind sich ja grundsätzlich alle einig (die hochnotpeinlichen und extrem lächerlichen AfD-Positionen mal beiseite gelassen): Wir brauchen unbedingt weniger MIV in unseren Innenstädten, sondern deutlich mehr klima- und menschenfreundliche Nahmobilität. Glasklar! Und wir brauchen das alles natürlich eher gestern als heute, logisch! Ihr wisst schon, verfehlte Klimaziele, tote Radfahrer und so!

Na dann, auf geht´s!


Zum Spielen:

Streetmix: Planungs-Tool für Nicht-Profis

Zum Weiterlesen und -gucken:

The Guardian: Desire paths: the illicit trails that defy the urban planners


Mikael Colville Andersen: Desire Lines / Copenhagenize


Nationaler Radverkehrsplan 2020: Förderprogramme


Radkomm #4: Vortrag Prof. Dr. Hermann Knoflacher


RADKOMM 5: Mikael Colville-Andersen


RADKOMM 6 Live-Mitschnitt


Cycmobility 18 | Sjors van Duren, Dutch Cycling Embassy | VORTRAG


Cymobility 18 | Lorenz Siegel, Copenhagenize Design Company | VORTRAG


Kopenhagen – mehr Innovationen


Prof. Dr. Heiner Monheim: „Wie gestalten wir die Zukunft?“