Politische Versprechen
Ich kann sie langsam nicht mehr lesen! All die Nationalen Radverkehrspläne, Klimaschutzteilkonzepte, Masterpläne und so weiter… Denn mir drängt sich inzwischen doch ein wenig die Erkenntnis auf, dass all das, was in diesen geduldigen Hochglanz-Papieren so blumig und möchtegern-progressiv pro Verkehrswende beschrieben ist, zwar hübsch ausschaut und sich politisch sehr gut öffentlich vermarkten lässt, dass jedoch oftmals mehr heiße Luft hinten raus kommt als tatsächliche Fortschritte in Richtung sicherer, zusammenhängender und qualitativ zeitgemäßer Radinfrastruktur.

Wir erleben das gerade wieder rund um die Posse B399n. Wo einmal ein Radschnellweg geplant war, sollen sich Radfahrende jetzt doch besser den innerstädtischen Platz (zwischen B56n/Veldener Str.) mit Fußgängern teilen, während die Autofahrer vier Spuren plus Abbiegespuren erhalten.

  • Leere Absichtserklärungen und freiwillige Empfehlungen.
  • Maßnahmenlisten ohne Finanzierungsgrundlagen und politisches Rückgrat, die spätestens auf Verwaltungsebene zum Scheitern verurteilt sind.
  • Ziele, die niemals evaluiert werden, damit auch ja niemand merkt, dass sie nicht erreicht werden (sollen).
  • Ausschluss und Marginalisierung anstatt Einbeziehung bürgerlichen Engagements. Im Nichts endende Beteiligungsprozesse (und Radwege).
  • Unzusammenhängende Einzelmaßnahmen, die mehr der Image-Pflege dienen als dem eigentlichen Verkehrsteilnehmer.
  • Konzeptlose und halbherzige, punktuelle Alibi-Öffentlichkeits-Aktionen.
  • Perverse Pkw-Lobbyisten-Verflechtungen und -Abhängigkeiten.
  • Wohlfeiler, aalglatter politischer Neusprech anstatt Tacheles.
  • Fiktive Zahlenspielereien und Statistik-Akrobatik zur Legitimation des Nichts-Tuns.
  • Greenwashing als PR.Konzept.

Und nun? NRW bekommt ein Radgesetz? LOL! Wer ist „schuld“ daran? Doch nicht etwa die Politik, die ja so dringend die Verkehrswende und den starken Mobilitätsverbund will. Nein, natürlich mussten wieder Menschen, die für ihr ehrenamtliches politisches Engagement keine horrenden Abgeordneten-Vergütungen und -pensionen erhalten, den Stein ins Rollen bringen. Das allein ist irgendwie schon ein wenig bezeichnend, wundert einen allerdings nicht wirklich.

Aufgabe der Politik ist nun vielmehr, sicherzustellen, dass die von den Bürgern gestellten Forderungen noch schnell möglichst Pkw-kompatibel gestaltet werden, um a) nicht die so lieb gewonnenen motorisierten Wähler zu vergrätzen und b) nicht in die unangenehme Lage zu geraten, längst überfällige Konzepte entwickeln und Anträge schreiben zu müssen. Oder c) sogar mal kommunale Finanzmittel in die Hand nehmen zu müssen bzw. d) daran zu denken, den Verkehrsraum grundsätzlich neu zu verteilen.

Die Diskrepanz zwischen dem, was Politik sagt bzw. angeblich will und beschlossen hat und dem, was sie umsetzt, ist inzwischen fast schon legendär. Besonders wenn es um „freiwillige Maßnahmen“ und „Handlungs-Empfehlungen“ geht.

Gerade (15. Juni) hat das Landesverkehrsministerium die Eckpunkte für das kommende Fahrradgesetz NRW veröffentlicht. Siehe auch hier. Noch hat es den Anschein, dass die Forderungen der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ tatsächlich Einzug ins Radgesetz finden sollen.

Ein wenig stutzig macht jedoch, dass im aktuellen Eckpunkte-Entwurf irgendwie vergessen wurde, anzugeben, bis wann die Ziele erreicht werden sollen (2025 war hier die Hausnummer der Volksinitiative) und wie das Ganze finanziert werden soll. Siehe auch hier.

Vorsorglich wurde schon mal das Totschlag-Argument „Corona“ ins Felde geführt. Dem Virus kann man ja problemlos alles in die Schuhe schieben, was seit Jahrzehnten grundsätzlich falsch läuft.

Sehr ambitioniert zeigt sich unsere Landesregierung wieder mal beim hehren Ziel „Vision Zero“ (keine Verkehrstote in NRW). Egal, welche Maßnahmen da noch so kommen, in der Präambel steht nicht viel außer „kollektive Selbstverpflichtung“. Der Referentenentwurf als Vorlage für´s Gesetz soll bis Ende des Jahres stehen, das Gesetz dann in 2021 umgesetzt bzw. beschlossen werden. Mal sehen…


Wissenschaftliche Erkenntnisse

Quelle: Nationaler Radverkehrsplan

Und damit auch wirklich ein Schuh draus wird, werden auch wissenschaftliche Erkenntnisse geflissentlich ignoriert. Spart Arbeit und ist effektiv, da sonst gegen die eigene Denke argumentiert werden müsste. Nicht, dass uns hier noch jemand schizophren wird…

Klar ist, dass Rad- und Fußverkehr in unseren Innenstädten deutliche Vorteile gegenüber dem MIV haben. Vorteile, die alle betreffen, die in unseren Citys leben, zur Schule gehen, arbeiten oder einfach flanieren und shoppen wollen.

Auf der Seite des (anscheinend auch ziemlich in Vergessenheit geratenen) Nationalen Radverkehrsplans (Forschung Radverkehr) wird dieser Punkt mit einem lustigen Satz eingeleitet: „Deutsches Expertenwissen zum Radverkehr ist international stark gefragt.“ Wie soll ich das verstehen? Ich hoffe doch, es ist damit nicht im Umkehrschluss gemeint, dass dieses Wissen bei uns zuhause nicht gefragt ist. Den Anschein hat es nämlich an vielen Stellen, an denen mal wieder sämtliche Qualitätsstandards bzgl. Rad- und Fußverkehr im Straßenbau ignoriert werden. ERA? RASt? Wass´n das?

Also schön aufgepasst, auf welche Erkenntnisse man sich in der Planung und sogenannten „Öffentlichkeitsarbeit“ oder gar in Beteiligungsprozessen bezieht. Nur nicht die vielen positiven Aspekte des nicht-motorisierten Verkehrs herausstellen (egal ob einem selbst bekannt oder nicht), sondern immer mit eigenen Zahlen, Analysen und Ansichten arbeiten. Die lassen sich besser „steuern“ und erhalten einem diverse Argumentationsoptionen, um eben nicht von wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängig zu sein, die augenscheinlich die vielfältigen Nachteile des MIV in unseren Innenstädten glasklar aufzeigen.

Beispiele?

Ökonomische Effekte

Die vielfältigen und langfristigen Ausgaben der öffentlichen Kassen für den Bereich Verkehr sind oftmals erst auf den zweiten Blick erkennbar. Viele dieser Kosten sind nicht unmittelbar finanziell kalkulierbar und zurechenbar. Unter Einbezug dieser Faktoren zeichnet sich das Fahrrad durch eine außergewöhnlich hohe Effizienz aus, insbesondere im Vergleich mit dem Kfz-Verkehr. Über die Gesundheitsförderung, Energieeinsparung und Stauvermeidung hinaus wird auch die relativ unaufwändige Infrastruktur ein Argument für Radverkehrsförderung.

Quelle: Nationaler Radverkehrsplan

Oder auch hier: The Social Cost of Automobility, Cycling and Walking in the European Union

Oder hier: Kostenvergleich Auto – Fahrrad in Deutschland

Oder hier:

Stefan Gössling – Professor Linnaeus Universität / Lund Universität Schweden: Kostenvergleich Auto-Fahrrad, Deutschland: Berechnungsannahmen

Oder hier: Gesamtwirtschaftlicher Vergleich von Pkw- und Radverkehr – Ein Beitrag zur Nachhaltigkeitsdiskussion

Oder hier: Uni Kassel – NRVP – Kostenvergleich zwischen Radverkehr, Fußverkehr, Kfz- Verkehr und ÖPNV anhand von kommunalen Haushalten

Die deutsche Denke SPIEGELt sich ganz „schön“ in diesem Artikel:
Kostenvergleich Rad gegen Auto – Das Velo ist Sieger der Herzen

Zitat: „Auch bei den internen Unfallkosten schneidet das Auto mit 1,4 Cent pro Kilometer besser ab, weil die Unfallfolgen für Pkw-Insassen innerorts meist weniger schwer sind als für Radfahrer. Radler kommen mit 6,3 Cent auf einen mehr als viermal so großen Wert.“

Hmm, dass bei Unfällen Pkw/Rad zu 75% die Pkw-Fahrenden hauptschuldig sind, wird da leider nicht erwähnt, obwohl dies die Logik irgendwie komplett umkehrt bzw. ad absurdum führt.

Und auch die Kalkulation der Arbeitszeit in Geldwert ist ziemlich fragwürdig! Aber gut, man malt sich halt die Welt, wie sie einem gefällt. Lustig, dass es trotzdem nicht gelingt, das Auto besser dastehen zu lassen als das Rad. Netter Versuch!

Was sagt denn das BMVI dazu? Die müssen´s doch wissen!

„Autofahrer erzeugen 20 Cent Kosten pro Kilometer, die derzeit nicht durch Steuern und Abgaben gedeckt sind.“

„Fahrrad erwirtschaftet pro gefahrenem Kilometer einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen von 30 Cent.“

Quelle: Nationaler Radverkehrsplan


Klimaschutz

Die Radverkehrsförderung hat in mehrfacher Weise Potenzial, um zu einer nachhaltigen CO2-Reduktion beizutragen.
1. Radverkehr ermöglicht eine Null-Emissions-Alltags- mobilität und ersetzt fossil betriebene Kfz, vor allem auf den kürzeren Fahrtstrecken.

2. Vor allem beim Pendeln zur Arbeit können Pkw- Fahrten ersetzt werden, künftig auch durch elektrisch unterstützte Pedelecs.

3. Auf lange Sicht geht es zur Zielerreichung im Kli- maschutz nicht ohne Verhaltensänderung, nicht ohne einen Wandel der Mobilitätskultur.

Quelle: Nationaler Radverkehrsplan

Gesundheitsförderung

Radfahren ist gut für die Gesundheit – das trifft auf nahezu alle Menschen zu. Welcher Fahrradtyp und welche Nutzungsintensität ideal sind, ist hingegen von Person zu Person unterschiedlich. Ebenso unter- schiedlich sind die jeweils wichtigsten Gesundheits- effekte: Während z.B. bei jungen Radlern zwischen 20 und 30 Jahren Spaß, Aktion und Fitness im Vorder- grund stehen, sind bei Nutzern zwischen 45 und 60 die Stärkung des Immunsystems und die Herz-Kreis- lauf-Prävention wichtige positive Effekte. Bei älteren Menschen rücken dann die Stabilisierung des Skelett- systems und Anti-Aging-Aspekte in den Vordergrund.
Je nach Altersgruppe und Nutzungsabsicht bieten sich auch unter dem Gesichtspunkt Gesundheit unter- schiedliche Fahrradtypen an. Entscheidend ist hierbei, dass der Lenker, der Sattel und die Pedale gut abge- stimmt sind, so dass eine optimale Sitzposition einge- nommen werden kann. Sportliche und trainierte Fah- rer können mit dem Rennrad in gebückter Sitzposition eine hohe Fahrgeschwindigkeit erreichen, für gemütli- chere Genussradler aller Altersgruppen sind hingegen Trekking- oder Cityräder, die in einer aufrechten Sitz- position gefahren werden, attraktiv. Letztendlich ist es entscheidend, welcher Fahrradtyp und welche Nut- zungsform dem Einzelnen den größten Fahrspaß er- möglichen, so dass sich dauerhafte Gesundheitseffekte einstellen können.

Quelle: Nationaler Radverkehrsplan

Demographische Entwicklung

Eigenständige Mobilität hat im Alter einen hohen Wert: zur Pflege privater Kontaktnetzwerke, für die körperliche Fitness und für alltägliche Erledigungen. Verkehrspla- nung hat auf die besonderen Sicherheitsanforderungen der Älteren vor allem mit übersichtlichen Verkehrssitua- tionen zu reagieren. Barrierefreiheit der baulichen Um- welt kommt auch den Rad fahrenden Seniorinnen und Senioren zugute.

Quelle: Nationaler Radverkehrsplan

Radschnellwege

Mit einem Radschnellweg können der Autoverkehr z.B. entlang staugefährdeter Pendlerstrecken entlastet bzw. der Ausbau des Straßennetzes vermieden werden (Stau- vermeidung). In den Spitzenstunden des Berufsverkehrs können Radschnellwege eine Entlastung des städtischen ÖPNV ermöglichen. Ein erhöhter Radverkehr auch über mittlere Distanzen unterstützt gleichzeitig mehrere po- litische Ziele der Gesundheits- und Bewegungsförde- rung, der Unfallvermeidung sowie der Lärmminderung und CO2-Reduzierung. Ein signifikantes, hoch-qualita- tives Angebot wie ein Radschnellweg schärft das inno- vative Profil der Region. Schließlich erhöht der aktuelle Trend zu den Elektrofahrrädern (Pedelecs) den Bedarf an schnellen Verbindungen.

Quelle: Nationaler Radverkehrsplan

Öffentlichkeitsarbeit / Kommunikation

Die Praxiserfahrungen in Deutschland zeigen, dass Radverkehrskampagnen mittlerweile wichtige und kostenwirksame Instrumente der Radverkehrsförde- rung darstellen. Gerade wenn die politische Unterstüt- zung gegeben ist, können kommunikative Maßnah- men zu mehr Radverkehr motivieren und die Radver- kehrsinfrastruktur besser in Wert setzen. Kampagnen bilden das Dach für den breiten Einsatz unterschied- lichster Instrumente und sorgen dafür, dass dieses „So- cial Marketing“ in der täglichen kommerziellen Wer- beflut nicht untergeht. Sie versorgen Medien mit po- sitiven Geschichten zum Radverkehr und aktivieren über diesen Umweg nicht zuletzt auch Politik und Verwaltung.

Quelle: Nationaler Radverkehrsplan

Betriebliches Mobilitätsmanagement

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Bedeutung des Faktors „Nachhaltigkeit“ in der Außendarstellung (großer) Unternehmen ist das Interesse an Ansätzen des betrieblichen Mobilitätsmanagements in den letz- ten Jahren rapide angewachsen. Praxisbeispiele aus Deutschland und Europa zeigen, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen dazu beitragen kann, das Mobilitätsverhalten der Mitarbeiterinnen und Mit- arbeiter zugunsten des Radverkehrs zu beeinflussen. Für den Erfolg mitentscheidend ist in den meisten Fäl- len eine gute Zusammenarbeit zwischen den Betrieben und den kommunalen Akteuren. So ist es beispielswei- se Aufgabe der Städte und Gemeinden, Radverkehrsin- frastrukturen zu bauen und instand zu halten, mit de- nen die Betriebe an das Verkehrsnetz angeschlossen werden.

Quelle: Nationaler Radverkehrsplan

Und so weiter und so fort…

Wer also wirklich (politische) Argumente für die Förderung von Rad- und Fußverkehr sucht, der kann gerne mal die Wissenschaft fragen. Alle Erkenntnisse sind nur ein paar Klicks, Mails und Anrufe entfernt!

Wer hingegen weiter in alten Konzepten denken will und nach wie vor den MIV gegenüber sinnvolleren Verkehrsformen bevorzugen möchte, sollte die Finger lassen von wissenschaftlichen Erkenntnissen, sonst verbrennt er sich in seiner Argumentation dieselbigen!