Gute Frage!

Bei Tempo 30 bin ich eigentlich ziemlich leidenschaftslos. Die Frage nach Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in der Innenstadt wäre aus meiner Sicht eh mehr oder weniger überflüssig, wenn wir eine vernünftige Infrastruktur für Rad, Fuß und ÖPNV hätten. Dann könnten die Automobilisten von mir aus gerne weiter durch die Stadt heizen und die Frage nach Tempo 30 in der Innenstadt würde sich gar nicht so aufdrängen.

Sowohl aus Autofahrer- als auch aus Fahrradfahrer-Perspektive sehe ich das eher als eine von vielen Stellschrauben, an denen man in Richtung Verkehrswende drehen kann. Insofern habe ich mich gedanklich noch gar nicht so recht mit Tempo 30 in der City und Tempo 100 auf der Autobahn auseinandergesetzt.

Es ist aber doch schon ziemlich auffallend, wie viele Leute sich nicht an die vorgeschriebenen Geschwindigkeiten halten. Man braucht ja nur die Zeitung aufzuschlagen und könnte meinen, die Lokalredaktion hätte einen freien Mitarbeiter, der ausschließlich für entsprechende Meldungen zuständig ist. Aber die kommen ja eh schon frei Haus… Genau wie die Blitzermeldungen. 😉 Neben den veröffentlichten und erfassten Verstößen gehe ich mal von einer Dunkelziffer aus, die ungefähr das Potenzial eines mittleren schwarzen Lochs hat. Aktuelles Beispiel?

KREIS DÜREN Seit dem 20. Mai ist die mobile, in einem Anhänger untergebrachte Blitze des Kreises Düren im Einsatz. Bis zum 22. Dezember – also in gut sieben Monaten – hat sie 9488 zu schnelle Fahrer geblitzt. „Es wurden Verwarnungs- und Bußgelder in Höhe von circa 281.000 Euro ausgesprochen“, erklärt der Kreis Düren auf Nachfrage der Lokalredaktion. 102 vom Trailer festgestellte Geschwindigkeitsverstöße haben zudem zu Fahrverboten geführt.

Dürener Nachrichten, 14.01.2021, Online-Artikel (bezahlpflichtig)

Das sind dann also 45 Raser pro Tag und an jedem zweiten Tag einer 7-Tage-Woche musste ein Fahrverbot verhängt werden. An einer einzigen Messstation… Naja, Kleinkram. Wie war das noch letztens auf der B264? Da waren es in 5 Stunden 115 Raser, also alle drei Minuten ein Raser! Respekt. Aber natürlich alles nur unfair abgezockte Vorzeige-Verkehrsteilnehmer, die unverschuldet in die Fänge der links-grün-versifften Anti-Auto-Diktatur geraten sind.

Als Tempo 30-Unentschlossener halte ich mal fest, dass sich Pkw-Fahrer sehr oft nicht an die vorgeschriebene Geschwindigkeit halten. Irgendwo habe ich mal von Korrelationen zwischen Geschwindigkeit/Unfallwahrscheinlichkeit/Unfallfolgen gelesen. Ging in Richtung „je schneller, desto bääääh!“ und klang ziemlich logisch.

Da bin ich jetzt mal egoistisch – als redpendler und Vater von nicht-autofahrenden Kindern. Es geht ja schließlich um die „Verhältnismäßigkeit“, die allerseits angemahnt und als „Argument“ bemüht wird. Hat mir aber leider noch keiner erklären können, wie man das irgendwie noch tolerable Verhältnis zwischen möglichem Lebensverlust und möglichem Zeitverlust bestimmt. Muss wohl jeder für sich selbst wissen.

Als Radfahrer bin ich eh auf der „langsameren“ Seite, hätte also nix dagegen, wenn die Differenz der Geschwindigkeiten zwischen mir und Autos, die direkt neben mir vorbei rauschen, möglichst gering wäre. Und gegen Pferde-Kutschen habe ich schon mal gar nix einzuwenden! Mehr davon! *Zwinkersmiley*

Aber, wie gesagt: baut endlich einfach mal zeitgemäße, separierte Radwege und die Geschichte hat sich sofort relativiert. Aus Autofahrersicht ist es für mich ehrlich gesagt auch vollkommen OK, die paar Meter durch die City etwas langsamer unterwegs zu sein, wenn ich dadurch die (gefühlte/reale) Sicherheit für „schwächere“ Verkehrsteilnehmer wie Schulkinder erhöhe. Wo ist das Problem? Wo ist da die für Motorisierte nicht zu ertragende Unverhältnismäßigkeit versteckt? Ich finde sie nicht.

Ich spekuliere mal ganz dreist, dass die durchschnittliche Innenstadt-Pkw-Geschwindigkeit wahrscheinlich irgendwo da liegt, wo die Verkehrswende-Radikalen das Tempo-Limit haben wollen. Wie schnell fahren wir denn – gerade zu den gefährlichen Stoßzeiten – durch die City? Mit 50 km/h? LOL!

Wie viel Zeit verliere ich eigentlich? Bspw. auf zwei Kilometern durch die City? Selbst wenn ich die absolut unrealistischen 50km/h voraussetze, bin ich mit 30km/h nur rund anderthalb Minuten länger unterwegs. Vier anstatt zweieinhalb Minuten. Das ist natürlich echt starker Tobak für die Innenstadt-Automobilisten. Jeden Tag ein paar Minuten versus alle paar Jahre mal ein plattgefahrenes Kind. Hmmm – Solange es nicht das eigene ist…


Exkurs StVO-Novelle:
Das Unwort „Verhältnismäßigkeit“ ist übrigens durch den vielfach gelobten Dr. Andy B. Scheuert (csU) wieder populär geworden. Nachdem sein Ministerium ein paar kleine „Formfehler“ in die StVO- bzw. Bußgeldkatalog-Novelle eintrojaniert hatte, wurde diese ja bereits juristisch anfechtbar, bevor sie überhaupt richtig in Kraft getreten ist. Fast so effektiv wie Autobahn-Maut, Autobahn-AG etc. 😉

Dies wiederum führte dazu, dass viele Innenstadtraser ihre Lappen nun doch nicht abgeben mussten, sondern unseren Verwaltungen stattdessen jede Menge Arbeit mit den Rückabwicklungen der Verfahren aufgebürdet wurde. Schließlich gab´s ja auch die Petition der Automobilisten gegen die „Führerschein-Vernichtungs-Maschine“! Wobei man sich schon fragen könnte, ob die eigentliche und einzige Führerschein-Vernichtungs-Maschine nicht der Pkw samt seinem Fahrer ist?

Quelle: bild.de

In dem Zusammenhang zeigt sich auch mal wieder sehr unschön die Autofahrer-Mentalität. Ich verallgemeinere mal wieder illegal. Für Autofahrer sind alle mobilen Blitzen, die nicht gerade an einem aktuellen Unfallschwerpunkt, vor einer Schule oder einem Krankenhaus stehen: Abzocke! Und ein ständiger Grund für Shitstorms, Verschwörungsmythen und Weltuntergangs-Szenarien.

Dabei wäre alles doch so einfach und ließe sich gemütlich „umfahren“, wenn man sich einfach an die vorgeschriebenen Geschwindigkeiten und den ersten Paragraphen der StVO (gegenseitige Rücksichtnahme und so) hielte…

Das Paradoxe dabei: Je mehr Raser geknipst werden, desto größer ist der Abzocke-Aufschrei, der sich damit nach Adam Riese (oder so) aber eigentlich selbst entkräftet, oder? Es sei denn, man betrachtet die Geschwindigkeitsbegrenzungen als „Richtwerte“ oder „freiwillige Selbstverpflichtungen“. Kann man auch machen – ist dann halt nur ein bisschen asozial. *Zwinkersmiley*

Aber Tempo 30 ist halt ein klassisches Automobilisten-Trigger-Thema, zu dem jeder eine Meinung hat, bei der die gottgegebene „50“ in Marmor gemeißelt ist.

Beispiel Birkesdorf:

Die Pferde-Kutsche ist ein sehr beliebtes Narrativ bei den Verkehrswende-Skeptikern. Und oft (ohne dass sie es selbst merken) deren einzig halbwegs vernünftiger Beitrag zur Diskussion. 😉


Weitere, nicht abschließende Automobilisten-Trigger-Liste:

  • Alle Autofahrer außer ICH!
  • Alle anderen Verkehrsteilnehmer.
  • Insbesondere: Fahrradfahrer & Fußgänger
  • Tempo 100 auf der Autobahn
  • Parkplätze! Parkplätze! Parkplätze!
  • Staus & Baustellen
  • Benzinpreise & sämtliche Steuern
  • Unfälle & Unfallverursacher

Soweit, so schlecht. Wie soll ich mir da als radpendler, Fußgänger, ÖPNV-Nutzer und Autofahrer eine Meinung zum Thema „generelles Tempo 30 in der Innenstadt“ bilden? Und wie komme ich da aus meiner Filterblase raus? Ich versuch´s erstmal mit gesundem Menschenverstand. Dann mal schauen, was die Interessengruppen und die Wissenschaft dazu sagen…

Gesunder Menschenverstand

  • Man hat sich vor langer Zeit auf ein Tempolimit festgelegt, das damals angebracht und gesellschaftlich erwünscht war. Finde ich gut. Sollte man sich heute nochmal unter den neuen Umständen neu anschauen. Wäre ja schließlich blöd, wenn wir nie mit der Zeit gingen und uns nicht entsprechend der heutigen und zukünftigen gesellschaftlichen Anforderungen weiterentwickeln könnten, sondern immer auf dem Alten (und längst „Überholten“) beharren müssten.
  • Weniger Tempo = mehr Reaktionszeit für Opfer und Verursacher von Unfällen, die dann vielleicht gar nicht mehr zu Opfern oder Verursachern werden.
  • Weniger Tempo = geringerer Schaden an (weniger) verunfallten Menschen.
  • Ausprobieren: Mein gesunder Menschenverstand will nicht andauernd auf der Stelle stehen bleiben, sondern sich entwickeln und Neues ausprobieren. Erst durch das Probieren bekommen wir praktische Erfahrungen, die für die Entscheidungsfindung wichtig sind. Und uns vielleicht auch bewusstseinsmäßig weiter bringen können. Das Scheinargument „Funktioniert ja eh nicht, also probieren wir es auch gar nicht“ lasse ich nur gelten, wenn sowohl gesunder Menschenverstand als auch grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse eindeutig dagegen sprechen. Um die Effekte der mutigen, progressiven Tests am sichtbarsten zu machen, bin ich ein Freund von ganzheitlichen, möglichst einfachen und effektiven Lösungen. Deshalb würde ich bei einem Versuch auch dazu tendieren, den direkt flächendeckend für die gesamte Innenstadt zu machen, anstatt den unübersichtlichen und nicht gut funktionierenden Flickenteppich auszuweiten.
  • Mitwelt: Je weniger Abgase und Abriebe etc. wir in der City haben, umso besser! Die ganzen Gesundheits-, Nachhaltigkeits- und Umweltverträglichkeits-Aspekte spielen bei mir – ehrlich gesagt – eine eher untergeordnete Rolle. Mir geht es mehr um Sicherheit und sozial-gesellschaftliche Aspekte. Das Thema Naturschutz und Gesundheit wird auch schnell sehr tief und überfordert meine Lesezeit-Kapazitäten. Die diversen Studien der diversen Seiten machen die Sache nicht gerade unkomplizierter. Das, was ich so wahrgenommen habe, und was mir meine Küchenpsychologie diesbezüglich sagt: Weniger Autos = bessere Luft. Und da flächendeckendes Tempo 30 innerorts eine sehr gute Push-Maßnahme sein kann, finde ich diese durchaus versuchswürdig. Würde gut in ein (noch zu erstellendes) Gesamt-Konzept passen.
  • Gesellschaftspolitischer Konsens: Eigentlich wollen wir (demokratisch gesehen) ja unbedingt die Verkehrswende. Das setze ich mal als Konsens voraus, auch wenn mir diejenigen, die sich als einzige Alternative zum Pkw nur die Rückkehr zur Pferde-Kutsche vorstellen können und die sich halt mit rund 10 Verkehrstoten und 1.000 Verletzten täglich zufrieden geben möchten, da widersprechen werden. Ich sag´s mal so: Die Gesellschaft will den Wandel, die Politik hat ihn beschlossen, die Polizei fordert ihn schon lange und selbst die Automobilisten können sich dem nicht mehr versperren, weil sie sich sonst der totalen Ignoranz und Lächerlichkeit preisgeben.

Die Auto-Lobby

Auch die Auto-Lobby will die Verkehrswende! *Hüstel* Zumindest offiziell und so irgendwie…

Hier ein paar Zitate – selbstverständlich vollkommen aus jeglichem Zusammenhang herausgerissen und pervers verkürzt dargestellt. Weitere „wissenschaftliche“ Infos der Auto-Industrie: siehe unten…

„Ich finde die Idee einer autofreien Innenstadt erstrebenswert“, sagte der 55-Jährige der „Süddeutschen Zeitung“. Das sei eine Frage der intelligenten Stadtplanung. „Wieso muss jemand, der nur einkaufen geht, mit dem eigenen Auto reinfahren? Das ist kein Gewinn.“

BMW-Chef Oliver Zipse, automobilwoche.de, 30.12.2019

Der ADAC schockt seine Mitglieder: Der größte Autoclub Deutschlands gibt seinen Widerstand gegen ein Tempolimit auf. Und das ist erst der Anfang.

VERKEHRSWENDE: Der ADAC will grüner werden, faz.net, 16.02.2020

Der ADAC setzt sich für eine Verbesserung des öffentlichen Verkehrs und anderer Alternativen zur Pkw-Nutzung ein, auch der Elektromobilität

Andreas Hölzel, Pressesprecher ADAC

Das Wuppertal Institut analysiert, wie sogenannte Vorreiterstädte den Wandel von einer autoorientierten zu einer nachhaltigen Verkehrsplanung gestaltet haben. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Nutzung von umweltschonenderen Verkehrsmitteln. Wir fördern diese wissenschaftliche Arbeit mit dem Ziel, Erkenntnisse und Empfehlungen für Städte zu gewinnen, die den Mobilitätswandel noch vor sich haben.

Ausgelaufenes Förderprojekt der ADAC-Stiftung. Bitte mal die Positionen von Hrn. Koska vom Wuppertal Institut recherchieren. Der hat ein paar sehr interessante Dinge zum Thema „Innerstädtischer MIV“ zu erzählen! 😉 Siehe z.B. hier und hier.

Da sich bei höheren Geschwindigkeiten sowohl der während der Reaktionszeit zurückgelegte Weg als auch der reine Bremsweg maßgeblich erhöhen, verdoppelt sich der Anhalteweg bei Tempo 50 auf knapp 30 Meter. (…)

Bei Tempo 30 reduziert sich der Anhalteweg deutlich. Durch eine verringerte Aufprallgeschwindigkeit kann im Fall einer Kollision die Unfallschwere gemildert werden. (…)

Aus Gründen der Verkehrssicherheit ist Tempo 30 in Wohnge- bieten grundsätzlich sinnvoll. Auf Hauptverkehrsstraßen haben vor allem die bauliche Gestaltung und signaltechnische Steue- rung der Knotenpunkte entscheidenden Einfluss auf die Ver- kehrssicherheit. Die Anordnung von Tempo 30 sollte daher auf Hauptverkehrsstraßen nur in begründeten Fällen (v. a. bei hohem Radverkehrsaufkommen im Mischverkehr oder bei linienhaftem Fußgänger-Querungsbedarf) geprüft werden. (…)

In der Realität zwingen Ampeln zum Abbremsen und Anhalten. Hinzu kommen verkehrsbedingte Störungen, etwa durch einparkende oder abbiegende Autos. Für eine dreieinhalb Kilometer lange Versuchsstrecke wurden im Rahmen von Befahrungen des ADAC bei Tempo 50 mehr als acht Minuten benötigt. Bei freier Fahrt ohne Halt hätte die Fahrt mit 50 km/h nur vier Minuten gedauert. Mit Tempo 30 dauerte die Fahrt – bei gleichen Verkehrsbeeinträchtigungen – gut zehn Minuten, also etwa zwei Minuten länger als bei Tempo 50. (…)

Die Leistungsfähigkeit einer innerstädtischen Strecke wird im Wesentlichen von der Durchlassfähigkeit ihrer Kreuzungen bestimmt. (…)

Je mehr Straßen mit einem Tempolimit von 30 km/h versehen sind, desto attraktiver werden im Vergleich das Fahrrad oder öffentliche Verkehrsmittel. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Tempo 30 den Umwelt- verbund grundsätzlich stärkt, da die Nutzung des eigenen Pkw mit einer geringeren Zeitersparnis verbunden ist. (…)

In der Praxis ergibt sich eine Mischung aus Geräuschen, die von Motoren und Reifen verursacht sind. Für das Lärmempfinden entscheidend ist dabei die lauteste Geräuschkomponente, also die Lärmspitze. (…)

Optimal ist der Betrieb eines Fahrzeugs bei niedriger Drehzahl in einem hohen Gang. Bei gleichmäßiger Fahrt mit Tempo 50 ist deshalb die Schadstoffemission sogar geringer als bei Tempo 30. (Anmerkung eines radpendlers: Optimal ist der Betrieb eines Verbrenner-Fahrzeugs in der City, wenn es gar nicht erst betrieben wird. Dann liegen die Schadstoffemissionen sogar bei 0!) 😉 (…)

Werden Lichtsignalanlagen intelligent koordiniert, können mit einer grünen Welle die Stickoxidemissionen gegen- über einer schlecht koordinierten Ampelschaltung um bis zu 33 Prozent sowie die Partikelemissionen um bis zu 27 Prozent reduziert werden. Zudem ist eine Senkung des Kraftstoffverbrauchs von rund 15 Prozent möglich. (Anmerkung eines radpendlers: Na, dann stellt mal schnell auf Tempo 30 um und passt die Signalanlagen an für eine flüssige grüne Welle. Denn dem Jammern der Autofahrenden nach haben wir die ja noch überhaupt nicht. (…)

Nachvollziehbar begründete Tempo-30-Anordnungen auf kurzen Streckenabschnitten mit etwa 400 bis 800 Meter Länge werden vom Kraftfahrer durchaus akzeptiert. (Anmerkung eines radpendlers: Bedeutet auf die Fläche der Dürener City angewandt ja quasi flächendeckend Tempo 30.) (…)

Fakten & Argumente kompakt – Tempo 30: Pro & Contra
ADAC Positionspapier, 2015

Weitere ADAC-Positionen

Dass die Verkehrsverbände VCD und ADFC nochmal eine andere Sicht als der ADFC haben, dürfte auch klar sein:


Die kommunale Sicht der Dinge

Der Deutsche Städtetag findet Tempo 30 ähnlich reizvoll wie die Polizei, will aber nicht an die Hauptverkehrsstraßen ran.

Lewe schlägt vor, dass die Bundesregierung es Städten ermöglicht, in Modellprojekten herauszufinden, wie sich ein generelles Tempolimit von 30 Stundenkilometern in der Stadt auf den Verkehr auswirkt. Lediglich auf den Hauptverkehrsstraßen solle es bei Tempo 50 bleiben.

Der Deutsche Städtetag fordert mehr Schutz für Radfahrer und Fußgänger. Dabei regt er auch ein generelles Tempo-30-Limit in Städten an, Die Zeitung für OberbürgermeisterInnen, obm-zeitung.de, 29.01.2020

Finde ich im Zusammenhang mit den anderen Forderungen des Städtetags angemessen. Denn wenn die gewünschte Rad- und Fußverkehr-Förderung umgesetzt wird und wir ein gutes Netz aus separierten Wegen haben und die Flächen neu und gerecht verteilt werden, wie die Stadtväter (und -mütter) es wollen, dann wird Tempo 50 auf den Hauptverkehrsstraßen kein Problem mehr sein. Eigentlich haben die Leute vom Städtetag nämlich eher so Positionen wie:

Der ruhende Kfz-Verkehr in Städten ist entscheidend zu reduzieren.

Nachhaltige städtische Mobilität für alle
Agenda für eine Verkehrswende aus kommunaler Sicht

Positionspapier des Deutschen Städtetages, Juni 2018

Das Positionspapier ist eine lohnende Lektüre.

Deutscher Städtetag will „dem Auto öffentliche Räume entreißen“

automobilwoche.de, 02.09.2000

Unser Ziel ist es, dass der Bund die aktuelle Novelle der Straßenverkehrsordnung so ergänzt, dass Städte selbst mit ihrem Wissen über Geschwindigkeitsbeschränkungen vor Ort entscheiden können, wenn das die Sicherheit erhöht. Außerdem sollte die Bundesregierung den Städten Modellprojekte ermöglichen, die zeigen, wie sich ein generelles Tempolimit von 30 Stundenkilometer in der Stadt und Tempo 50 lediglich auf Hauptverkehrsstraßen auf den Verkehr auswirken. Als hilfreich und sinnvoll bewerten die Städte die Erhöhung der Geldbußen für verbotswidriges Parken in zweiter Reihe und auf Geh- und Radwegen, wie sie in der StVO-Novelle bereits formuliert ist.

OB Markus Lewe (Münster), Vizepräsident Deutscher Städtetag,
Bund soll Straßenverkehrsordnung noch stärker anpassen
Deutscher Städtetag will mehr Schutz für Radfahrer und Fußgänger
“, 29.01.2020

Nachholbedarf gibt es noch bei den Entscheidungsspielräumen der Kommunen. Die Bundesregierung sollte den Städten Modellprojekte ermöglichen. Geschwindigkeitsbeschränkungen dürfen die Städte bislang nur in Ausnahmefällen, etwa vor Kitas oder Schulen oder aus Lärmschutzgründen aussprechen. Das führt zu starren kleinräumigen Geschwindigkeitswechseln. Die Städte müssen das in Zukunft flexibel gestalten dürfen. Denn dann können sie mit den Regelungen zur innerörtlichen Geschwindigkeit Verkehrssicherheit und Verkehrseffizienz besser in Einklang bringen.

OB Markus Lewe (Münster), Vizepräsident Deutscher Städtetag,
Ein Jahr Bündnis für moderne Mobilität – Städte brauchen mehr Entscheidungsspielräume“, 18.11.2020

Wissenschaftliche Positionen

Eine gute Zusammenfassung liefert der Tagesspiegel:

Auch das Umweltbundesamt hat sich schon mit dem Thema beschäftigt:

Fazit zum Einfluss der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf die Leistungsfähigkeit von Hauptstraßen:

Eine Senkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit hat in den meisten Fällen keinen nennenswerten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit einer Hauptverkehrsstraße für den Kfz-Verkehr.

Andere Faktoren wie die Qualität der Lichtsignalprogramme, die Anzahl querender Fußgänger oder Bus-halte, Parkvorgänge oder Halten in zweiter Reihe haben in der Regel einen größeren Einfluss.Die Funktion einer innerstädtischen Hauptverkehrsstraße für den Kfz-Verkehr wird daher durch Tempo 30 nicht oder nicht nennenswert beeinträchtigt. (…)

Fazit zur Qualität des Verkehrsflflusses und zu den Reisezeiten im Kfz- und öffentlichen Verkehr:

In der Praxis wurden bei Messfahrten Reisezeitverluste an Tempo-30-Strecken von 0 bis 4 Se- kunden je 100 Meter festgestellt. Dies ist auch bei längeren Abschnitten oder einer Aneinanderreihung von mehreren Regelungen volkswirtschaftlich kaum relevant.

Wichtiger für die subjektive Wahrnehmung und damit die Akzeptanz von Tempo 30 ist die Homogenität des Verkehrsflflusses. Der Verkehrsflfluss kann Messungen zufolge bei Tempo 30 besser sein als bei Tempo 50.

Bei neuen Anordnungen sind vorhandene Grüne Wellen hinsichtlich einer Anpassung an die veränderte Höchstgeschwindigkeit ebenso zu prüfen wie betriebliche und wirtschaftliche Aspekte des ÖPNV. (…)

Fazit zur Lärmbelastung:

Tempo 30 führt in der Mehrzahl der untersuchten Fälle zu wahrnehmbaren Lärmentlastungen. Dazu tragen vor allem nachts auch die geringeren Lärmspitzen bei. (…)

Fazit zur Luftreinhaltung:

Tempo 30 reduziert die Luftschadstoffbelastung, wenn es gelingt, die Qualität des Verkehrsflusses beizubehalten oder zu verbessern. (…)

Fazit zur Verkehrssicherheit:

Tempo 30 hat positive Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit. Vorliegende Studien ergeben keine Anhaltspunkte für gegenteilige Annahmen. (…)

Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen,
Umweltbundesamt, 11/2016
Dürener Tempo 20-Zone an der Post.

Persönliches Fazit

Flächendeckend Tempo 30 in der Innenstadt stellt für mich als Autofahrer überhaupt keine „Bedrohung“ dar. Die Achse von der Polizei bis nach Birkesdorf sowie andere überbreite Straßen sollen sowieso neu aufgeteilt werden – und damit hoffentlich ordentlich für Rad/Fuß ausgestattet und separiert.

Die paar Meter, auf denen ich in der City tatsächlich mal effektiv 50 km/h fahren kann, sind doch schon jetzt ziemlich überschaubar. Wenn man den Flickenteppich aus 50er- und 30er-„Zonen“ mal vereinheitlicht (in Richtung realer Durchschnittsgeschwindigkeit vielleicht), dann ließe sich mit einer vernünftigen Ampelschaltung bestimmt auch der Pkw-Verkehr angemessen verflüssigen.

(Das Argument, dass durch solche Maßnahmen auch mehr Leute ihre Räder anstatt ihrer Autos nutzen werden, was wiederum Folgen für den Modal Split haben wird, verstehen die Pferde-Kutschler ja leider nicht. Oder können es sich einfach partout nicht vorstellen in ihrem Pkw-dominierten Mindset.)


Vielleicht würden die armen, von der Führerscheinvernichtungsmaschine Betroffenen auch weniger darüber klagen müssen, dass sie andauernd von plötzlich und total hinterhältig auftauchenden Tempo 30-Zonen und -Schildern heimgesucht werden. Weil sie sich vielleicht leichter an eine einheitliche Regel für die ganze City gewöhnen könnten, wenn schon Schilder-Lesen sie überfordert.

Ohne jetzt alle einzelnen Für und Wider nochmal wiederzukäuen, sage ich mal: Für mich wäre flächendeckendes Tempo 30 in der Innenstadt einen Versuch wert. Dieser würde dann in Zusammenhang mit den anderen gerade anstehenden Maßnahmen zeigen, ob dies ein Zukunftsmodell sein kann oder ob wir bspw. die Hauptverkehrsstraßen wieder da rausnehmen. Kann ja auch nicht die Welt kosten. Ich gehe mal davon aus, dass man eh an die Ampelschaltung ran muss, wenn man Fahrspuren reduziert, neue Radwege baut, das Klimaschutz-Teilkonzept sowie das Radgesetz NRW usw umsetzt…

Haupt-Pro-Argument ist aus meiner Sicht: Wir brauchen neben den (bitter-)süßen, hübschen und dankbaren Pull-Maßnahmen für Nicht-Autofahrer noch viel mehr effektive und aufeinander abgestimmte Push-Maßnahmen „für“ Autofahrer! So wie die Wegnahme von Fahrspuren für den innerstädtischen MIV, die die Koalition „Zukunft Düren“ gerade angekündigt hat. Hierzu zähle ich auch ein flächendeckendes Tempolimit. Insbesondere weil es quasi mitten ins Autofahrer-Herz trifft. TEMPOLIMIT! Das triggert! Sorry, folks! 😉

Aber wenn wir es mutig & konsequent durchziehen und sehen, dass es funktioniert (so wie in vielen anderen Städten auch), dann haben wir mehr positives Bewusstsein für die Verkehrswende geschaffen als die Stadt Düren mit aller *hüstel* Öffentlichkeitsarbeit pro Verkehrswende in den letzten 20 Jahren.

Also: Daumen hoch für einen Versuch mit flächendeckendem Tempo 30 in der Innenstadt!



Der Rasomat (spiegel.de)


Vorsicht, Satire!


Zum Weiterstöbern in der Verkehrswende-Thematik…