Ein Kollege erzählte mir neulich, dass er an einer bestimmten Stelle im Dunkeln ganz bewusst mit dem Rad auf dem Gehweg fährt. Im Schneckentempo, wie ich ihn kenne. Und garantiert nicht, um auf Kosten Anderer eine geschmeidige Abkürzung zu nehmen. Auch nicht, um den für Fahrradfahrer (mit Gepäck) besonders nervigen Schlaglöchern oder versenkten Gulli-Deckeln auszuweichen. Er macht es tatsächlich nur aus reinem Selbstschutz. Überlebenstrieb schlägt Regelkonformität!

Nach ungezählten Nahezu-Kollisionen mit Autofahrern, die mal wieder einen Fahrradfahrer „übersehen haben“, wie es immer so niedlich in den Polizei-Pressemeldungen heißt, kann ich diesen Instinkt – lieber den (vermeintlich) sichereren aber verbotenen Weg zu nehmen, anstatt dem zwar erlaubten aber gefährlicheren Weg zu folgen – echt gut nachvollziehen.

Bin ich alleine auf dem Rad unterwegs, sind Gehwege für mich tabu. Und in der Regel auch völlig uninteressant, weil man darauf eh nicht schnell genug voran kommt. Drei total illegale Ausnahmen genehmige ich mir aber trotzdem.
1. Je nach Verkehr und Straße mit meinen Kindern vorsichtig auf dem Gehweg fahren.
2. Dem Müllauto kurz über den Gehweg ausweichen.
3. Querung eines bestimmten Gehwegs. Ein grüner Rechtsabbiege-Pfeil für Radler würde mich hier allerdings schnell wieder auf den rechten Pfad bringen.

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gruenpfeil-Rad-rechts.jpg

Aber zurück zu meinem Kollegen. Ich stelle mir mal kurz vor, wie ich ihn als vorbeifahrender Autofahrer ohne Radfahrer-Brille wahrscheinlich wahrgenommen hätte… „Na klar, typisch. Radfahrer auf dem Gehweg, wie immer. Wieder einer von den vielen Fahrrad-Rowdys auf Fußgänger-Jagd.“ Klischee bestätigt und verfestigt.

Die vielen vernünftigen Radfahrer, denen ich andauernd und überall begegne, werden beim Thema Fahrrad-Rowdys komplett ausgeblendet bzw. erst gar nicht wahrgenommen. Auch nicht, wenn man sie viel zu eng und schnell in der Tempo 30-Zone überholt. Ich bin doch sogar schon „Kampfradler“, wenn ich mal wieder auf einem von Pkw zugeparkten Schutzstreifen fahrend, auf die Straße ausweichen muss. Denn damit nerve ich regelmäßig die hinter mir fahrenden Pkw, deren Klischee des sich unrechtmäßig auf der auto-eigenen Straße breit machenden Rowdys sich nebenbei wieder bestätigt. So regelkonform du dich (insbesondere) als Radfahrer auch verhältst, du wirst damit immer diversen (insbesondere) Autofahrern ziemlich auf die Nerven gehen!

Beispiel Mindestabstand: Halte ich den vorgesehenen Mindestabstand zur Seite oder zu (widerrechtlich) parkenden Autos ein, können mich je nach Straße und Verkehr keine Autos überholen, die sich ebenfalls an ihren Mindestabstand halten. Die Realität sieht anders aus…

Viel zu eng, viel zu schnell.

Beispiel Radwegebenutzungspflicht: Erkenne ich die Erkenntnisse der Wissenschaft an, die sich mit meinen eigenen Erfahrungen decken, und nutze demnach meistens die Fahrbahn, fühlen sich viele Autofahrer regelrecht angegriffen oder bedroht. Als ob ich nachts mit einer Axt durch ihren Garten liefe. Dabei will ich doch nicht mehr, als auf der Straße fahren! Leider scheint vielen Auto- und auch Taxi- und Busfahrern immer noch nicht bekannt zu sein, dass die allgemeine Radwegebenutzungspflicht längst abgeschafft wurde. Ich muss nur auf einem Radweg fahren, wenn dieser mit einem der blauen Lollies beschildert und in einem vernünftigen Zustand ist! Und das hat auch gute Gründe. Ich entgehe nämlich den minderwertigen bis zu gefährlichen „Radwegen“, deren Benutzungspflicht ja nicht aus reiner Willkür aufgehoben wurde. Es sollte im Verkehr nicht darum gehen, dass die Pkw möglichst schnell vorankommen (was sie in der Innenstadt eh nie schaffen), sondern darum, dass Alle möglichst ungefährdet und flüssig durch die Gegend kommen.

Pest oder Cholera: Straße mit den rücksichtsvollen Pkw teilen oder nicht benutzungspflichtigen „Radweg“ mit Fußgängern, Ladeverkehr, Beifahrertüren, Einfahrt, Geschäften, Lokalen…?


Beispiel vorgeschaltete Halteflächen an Ampeln: Selbst diese Seltenheit – eigens für Radfahrer aufgepinselte Mini-Zonen – werden von Autofahrern nicht abgetreten, sondern andauernd vereinnahmt. Irgendwie scheint der Drang, immer ganz vorne an der roten Ampel stehen zu wollen, bei Motorisierten stark ausgeprägt zu sein.

Hauptsache immer vorne an der roten Ampel… Ich würde lieber gut sichtbar vor dem qualmenden Auto stehen. Zumal ich schneller anfahre.

Beispiel Linksabbiegen auf der Fahrbahn: Da unsere Kreuzungen für den Pkw-Verkehr mit eigenen Spuren, Ampeln usw. optimiert wurden und es an vernünftigen Querungs-Lösungen und Wegen für Radler mangelt, fahre ich fast immer auf der Straße, wenn ich darf. Das ermöglich es mir, mindestens genauso schnell durch die Stadt zu kommen wie die Autos. Erzeugt bei ihnen aber leider allzu oft Reaktionen, die irgendwo zwischen billigendem Unverständnis und totaler Hysterie liegen. Dass auch ein Radfahrer mal links abbiegen muss, ist für viele Autofahrer höchst irritierend und provokativ.

Panisches Überhol-Manöver, obwohl sich die Autos vorne schon wieder stauen. Hinter dem Radfahrer zu bleiben ist keine Option. Zeitgewinn: 0 Sekunden.

Radfahrer lieben fließenden Verkehr

Autofahrer scheinen das ständige Be- und Entschleunigen ja förmlich zu lieben. Vor fast jeder orangen/roten Ampel muss nochmal beschleunigt werden. Um möglichst schnell wieder stoppen zu dürfen? Oder um es dem Unmotorisierten vor einem, der sich erdreistet die Straße zu benutzen, mal so richtig zu zeigen? Vielleicht auch nur um möglichst viel Treibstofff zu verbrauchen, Reifenabrieb und Verschleißteil-Verbrauch zu erzeugen? Man weiß es nicht.

„Normalen Radfahrern“ ist solch ein Verhalten fremd. Und da behaupte ich einfach mal, für die absolute Mehrheit der Radfahrer zu sprechen. Zumindest für die Radpendler und Alltags-Fahrer und die Leute, die einfach schnell, sicher und bequem von A nach B wollen. Radfahrer lieben fließenden Verkehr. Irgendwie logisch, ich will ja meine „Masse“ nicht andauern wieder neu beschleunigen müssen, sondern den Schwung nutzen und einigermaßen gleichmäßig durch die Stadt „gleiten“. Und das Gute dabei: je mehr Radfahrer und je mehr gute Radfahrer-Infrastruktur, desto besser, flüssiger und konflliktärmer der Verkehr für Alle.

Quelle: pixabay.de

Wie schnell „fließt“ denn so ein Auto durchschnittlich durch den Innenstadt-Verkehr? 20 km/h? 25 km/h? Nie und nimmer schneller als 30! Warum eigentlich nicht Tempo 30 in der Innenstadt deklarieren? Das wäre mir an vielen Stellen deutlich lieber als irgendwelche halbseidenen Streifen auf der Fahrbahn. Und würde den Verkehr vielleicht mal verflüssigen. Gerne radikal und grundsätzlich in der ganzen Innenstadt. Zur Not auch „nur“ an Straßen, an denen keine vom Auto räumlich getrennten Radwege vorhanden sind oder bei denen es sich nicht eh schon um Fahrradstraßen handelt.

Radfahrer halten sich viel mehr an die Regeln, als ihnen nachgesagt wird.
Das Klischee des chaotischen Radfahrers, der grundsätzlich ohne Licht auf der falschen Seite fährt, kennen wir alle. Er trägt immer schwarze Tarnkleidung, ist besoffen und bekifft, fährt provokativ und freihändig auf Fußgänger zu und telefoniert natürlich währenddessen. (Wahrscheinlich mit anderen Fahrrad-Rowdys, um sich für die nächste Fußgänger-Jagd zu verabreden…)
Dieses Klischee ist grundsätzlich einfach falsch! Oder gibt es irgendwas halbwegs Wissenschaftliches, das das Klischee belegt? Das Argument, aufgrund eines fehlenden Nummernschildes könne man die Fahrrad-Rowdys nicht statistisch erfassen, ist fadenscheinig. Wie hoch ist denn die Dunkelziffer bei Mindestabstands-Verstößen, Falschparkern, Rasern…?
Schon alleine, weil sie in der Regel nicht lebensmüde sind, halten sich Radfahrer grundsätzlicher an die Regeln. Wenn sie Regeln brechen, dann tun sie das aus verschiedensten Gründen, verursachen aber deutlich weniger Schaden (an Anderen).

Völlig unnötiges Überholen ist an der Tagesordnung.

Autofahrer begehen deutlich mehr Verkehrsverstöße als Radfahrer. Ich hatte ja schon mal einen Blick auf die Unfallstatistik geworfen. Die Zahlen sprechen für sich.
Zitat: „Laut Statistischem Bundesamt waren von 2013 bis 2016 Pkw bei Zusammenstößen mit Fahrradfahrern zu 75 Prozent die Hauptverursacher. Bei Unfällen zwischen Lkw und Fahrrad waren die Lastkraftwagen sogar zu 80 Prozent die Hauptverursacher. Radfahrer sind insgesamt bei nur einem Drittel aller Unfälle mit weiteren Beteiligten die Hauptverursacher. Um die Unfälle zwischen Radfahrern bereinigt, sind Radler nur zu einem Viertel die Hauptverursacher von Unfällen mit anderen Verkehrsteilnehmern.“ Zitatende. Quelle: https://www.adfc-bayern.de/news/article/schuld-hat-selten-der-radfahrer/
Wenn man das mal in ganzen Zahlen denkt – bei zehntausenden Autos, die jeden Tag durch unsere Stadt fahren – und die hohe Dunkelziffer mitbedenkt, kann man sich auch ohne die passende Statistik leicht ausmalen, wer Hauptverursacher von Verkehrsverstößen ist. Von den „kleinen“ Ordnungswidrigkeiten mal ganz zu schweigen.

Parkstreifen-Konzept anstatt Radverkehrs-Konzept.

Radfahrer gefährden mit ihren Verstößen deutlich weniger als Autos. Auch das ist ziemlich klar. Selbst wenn Radfahrer zu 60 Prozent die Hauptschuld an Kollisionen Rad/Fuß tragen (und rund 100 Prozent an Rad/Rad) 😉 muss man zweifellos zur Kenntnis nehmen, dass Radler mit ihren Verstößen eindeutig weniger Schaden (insbesondere an Anderen) verursachen.

Die „Motivation“ für Verstöße unterscheidet sich bei Rad und Auto extrem.

Selbstverständlich gibt es die Fahrrad-Chaoten, denen alle Regeln egal sind, genauso wie es ihre autofahrenden Pendants gibt – wenn sie nicht eh beides sind. Die lasse ich aber mal außen vor, da es in jedem menschlichen System „Komponenten“ gibt, die partout nicht nach den Regeln spielen wollen. Ich bin allerdings fest davon überzeugt, dass sich Auto- und Radfahrer da ziemlich die Waage halten. Weder in Prozent und erst recht nicht in ganzen Zahlen gibt es mehr chaotische Rad- als Autofahrer! Auf jeden Fall signifikant mehr Männer als Frauen, aber das ist eine andere Sache…

Diejenigen Radfahrer, die nicht unter die kleine Kategorie „Chaoten“ fallen, aber dennoch gegen Regeln verstoßen, tun dies sehr oft ganz bewusst, um sicherer, schneller und/oder bequemer vorwärts zu kommen. Das legalisiert jetzt erstmal keinen Regelbruch, ist aber grundsätzlich kein unvernünftiges Anliegen. Weil vielfach die Infrastruktur zur Befriedigung dieser Wünsche nicht vorhanden ist, werden Regeln missachtet. Insbesondere dort, wo sie in der Praxis unsinnig erscheinen oder sich Fahrradfahrer aufgrund miserabler Infrastruktur gegenüber Autofahrern als Verkehrsteilnehmer stark benachteiligt fühlen.

Regelkonform in den Verkehr einfädeln oder gesetzwidrig durch die Baustelle? Nein, das ist keine Protected Bike Lane.

Natürlich gibt es daneben auch die Situationen, in denen man als Radfahrer gegen Regeln verstößt, ohne es zu wollen (oder zu bemerken). Beispielsweise aufgrund von schlechter Beschilderung sowie mangelhaften Markierungen und Radwegeführungen. Oder einfach wegen Unachtsamkeit. Vielleicht auch aus Unwissen heraus. Oder wenn wir unseren seitlichen Mindestabstand nach rechts einhalten wollen und trotzdem auf dem sogenannten „Mehrzweckstreifen“ fahren! Dafür die Radfahrer pauschal in die Kategorie „Fahrrad-Rowdy“ zu stecken, entspricht nicht der Realität auf unseren Straßen.

Selbst die offensichtlich vielen Rot-Fahrer unter Radfahrenden, möchte ich ein wenig relativieren, obwohl sie mich teilweise sehr nerven. Erstens beobachte ich andauernd statistisch niemals gezählte Rot-Verstöße von Pkw. Zweitens fahren Radfahrer nach meiner Beobachtung meistens in Situationen über Rot, in denen sie vorher gut abgecheckt haben, wie die Straße vor ihnen aussieht. Die allerwenigsten Radfahrer sind lebensmüde genug, um so über rote Ampeln zu fahren, wie Pkw dies sehr oft machen.


Lkw über Rot.
Pkw schaut zu.
Pkw über Rot. Alltägliches Bild…

Autofahrer hingegen begehen offensichtlich viele Verstöße, weil ihnen ganz einfach die Regeln nicht bekannt sind. Anders kann ich mir bspw. deren Aufregung, Hupen, Drängeln und Nötigen nicht erklären, wenn ich als Radler auf der Fahrbahn unterwegs bin. Dass die Straße genauso viel den Radfahrern „gehört“ wie den Autofahrern ist vielen Autofahrern wohl einfach nicht bewusst. Obwohl das einfachste StVO-Basics sind. Da ist leider sehr viel erschreckendes Halbwissen und Unwissen auf unseren Straßen unterwegs.

1,50 Meter Regel-Abstand, 15 Zentimeter Real-Abstand.

Ähnliches gilt für den Mindestabstand beim Überholen. Ich denke, viele Autofahrer wissen einfach nicht, wieviel Abstand sie einhalten müssen. Hinzu kommen noch diejenigen, denen zwar der Mindestabstand so halbwegs bekannt ist, die diesen aber trotzdem einfach ignorieren. Hierbei erlebe ich drei Typen von Autofahrern. Erstens die, die ihr „schnelles“ Vorankommen über die Sicherheit aller Anderen stellen. Hauptsache als Erster an der nächsten roten Ampel stehen! (Egoisten) Zweitens diejenigen, die ganz bewusst viel zu eng überholen, weil sie sich von einem „Kampfradler“ bedroht fühlen, der in ihrem Territorium wildert. Diese Menschen gefährden mich und andere Verkehrsteilnehmer absolut vorsätzlich – mit dem Ziel mindestens einen kleinen Denkzettel zu hinterlassen. Erlebe ich täglich… (Verkehrsuntaugliche) Drittens diejenigen, die schlicht und einfach schlechte Autofahrer sind und ihr Fahrzeug nicht vernünftig im Griff haben. (Inkompetente)

Falschparker handeln meist aus purem Egoismus und aus mangelnder Empathiefähigkeit. Hauptsache ICH kann direkt vor meinem Zielort parken. Ist doch nicht mein Problem, wenn da gerade zufällig ein Schutzstreifen entlang läuft. An diejenigen, die ich durch mein Falschparken den ganzen Tag lang nerve, behindere und gefährde, denke ich erst gar nicht. Und da ich auch kein Knöllchen zu erwarten habe, brauche ich mein asoziales Verhalten auch nicht zu ändern. Nebenbei tragen die Falschparker dazu bei, weitere Autofahrer zum Falschparken zu animieren, da es ja offensichtlich toleriert wird. Und wo schon fünf Pkw falsch geparkt sind, macht der sechste dauerhafte Falschparker doch nun auch nicht mehr viel aus, oder?

Lächerliche Park-Fähigkeiten trotz täglichen Übens.

„Fazit“: Radfahrer sind bestimmt keine besseren Menschen als Autofahrer. Sie sind in einem modernen, in Richtung menschen- und umweltfreundliche Mobilität ausgerichtetem Konzept aber auf jeden Fall die „besseren“ Verkehrsteilnehmer. Und nebenbei wahrscheinlich auch die besseren Autofahrer.


Zum Weiterlesen:

„Ramsauer beklagt „Verrohung der Kampf-Radler““, Spiegel Online (2012)

Der 7. Sinn – Rücksicht im Straßenverkehr (youtube/NDR, extra3)

Radfahren in der Stadt – Warum ich (fast) nie den Radweg benutze, stern.de

„Schlechte Radwege zwingen zum Regelbruch“, Zeit Online (2015)

„Regelverstöße, die Leben retten“, taz online (2013)

„Die Mär vom Velo-Rowdy“, Velo-Journal

(StVO §1: Grundregeln)