Industrie und Wirtschaft machen sehr gute Erfahrungen mit der sogenannten „Freiwilligen Selbstverpflichtung“. Ist eigentlich eine feine Sache. Man „verpflichtet“ sich beispielsweise dazu, gewisse Umwelt- oder Sozialstandards einzuhalten. Toll! Der feine Unterschied zu einer echten, rechtlichen Pflicht besteht lediglich in dem kleinen, marginalen Wörtchen „freiwillig“. Wozu das unscheinbare Wort in der Praxis führt, ist klar. Echte Pflicht und Verantwortung wird zur beliebigen Option degradiert, die den üblichen unternehmerischen Kalkulationen unterliegt, sprich, sich nicht an sozialen oder ökologischen Faktoren orientiert, sondern auf Gewinnmaximierung, Wachstum und möglichst hohe Dividendenausschüttungen fokussiert ist.

Was soll das alles nun mit dem Mindestabstand zu tun haben? Aus meiner Sicht ist die Abstandsregelung, die mit der StVO-Novelle nun endlich auch gesetzlich fixiert ist, solange nicht mehr als eine freiwillige Selbstverpflichtung, solange die Behörden die Abstände gar nicht kontrollieren (können/wollen?). Drohende Sanktionen existieren nur pro forma auf dem Papier, sie werden jedoch gar nicht angewendet!

Sicherheit im Straßenverkehr:1,5 Meter Abstand – mindestens! ADFC, Dürener Kreisbahn und Stadt Düren werben mit Aufklebern für das Einhalten des Mindestabstands zu Fahrradfahrern.“ (DN Zeitung)
Mehr Rücksichtnahme mit mehr Seitenabstand“ (Stadt Düren)
Seitenabstand 1,5 m – gemeinsame Aktion der Polizei Düren und der Arbeitsgemeinschaft Pro Rad“ (Polizei Düren)

So setzt also auch die Stadt Düren voll und ganz auf den „good will“ der Autofahrenden: „Wäre ganz nett, wenn Ihr euch mal an die Verkehrsregeln halten würdet. Falls Ihr´s aber nicht tut, auch egal, wir kontrollieren Euch nämlich nicht! Solange also nichts passiert, seid Ihr „safe“. Und selbst wenn etwas passieren sollte und ihr mal wieder „aus Versehen“ viel zu eng überholt habt: Macht Euch keine Sorge – der Radfahrer wird Euch eh nie nachweisen können, dass Ihr Scheiße gebaut habt. Insofern bleibt für Euch also alles wie gehabt!“

Dieser Bus hat keinen 1.5m-Abstands-Aufkleber drauf: Wirkt deshalb die „freiwillige Selbstverpflichtung“ nicht?

Die Halbherzigkeit der ach so öffentlichkeitswirksamen Kampagne (siehe oben) ist mal wieder bezeichnend für die Nicht-Priorisierung des Radverkehrs in Düren. Da posiert man wieder für ein schickes Pressefoto, klebt ein paar Aufkleber auf Busse und Dienstfahrzeuge und hofft dann, dass das schon irgendwie reichen wird, wischt sich den Schweiß von der Stirn und schließt das Kapitel damit ab. Pflicht erfüllt, Häkchen dran, erledigt!

Wird schon nichts passieren!


Am 11. Juni habe ich Landrat Wolfgang Spelthahn (CDU) als Leiter der Kreispolizeibehörde angeschrieben, bisher (21. Juni) aber noch keine Rückmeldung erhalten:

Betreff: Mindestabstände beim Überholen Pkw/Fahrrad: Unzureichende Überwachung und Ahndung

Sehr geehrter Herr Spelthahn,

ich wende mich mit einem persönlichen Anliegen an Sie, das mich schon seit geraumer Zeit beschäftigt, für das es aber anscheinend keine Lösung gibt und das wohl auch in absehbarer Zeit nicht gelöst wird, wenn wir uns nicht zielführend damit beschäftigen. Wie sie dem Betreff entnehmen konnten, geht es um die Mindest-Abstände von RadfahrerInnen überholenden Pkw. Mit der StVO-Novelle sind diese nun auch gesetzlich verankert. Ein wichtiger Schritt, wie ich finde. Denn leider erleben meine Kinder und ich als Schul- und Berufs-RadpendlerInnen fast täglich Situationen, in denen Autofahrende die Mindestüberholabstände deutlich unterschreiten und dabei Radfahrende massiv gefährden.

Mein Problem ist neben der persönlichen Betroffenheit insbesondere ein grundsätzliches: Es gibt anscheinend keine Möglichkeit, diese höchst gefährlichen Verstöße zu ahnden. Außerdem/deshalb (Henne/Ei?) erkenne ich auch kein Bewusstsein bei den Behörden, keine deutliche Haltung, diese Vergehen „auf dem Schirm zu haben“. Das ist aus RadfahrerInnensicht ein sich selbst verstärkender Teufelskreis, der gerade jetzt, da die StVO-Novelle inkraft getreten ist, durchbrochen werden muss. Einerseits selbstverständlich durch adäquate Öffentlichkeitsarbeit (schon fast zu spät), andererseits insbesondere durch verstärkte Kontrollen (inkl. „pädagogischen Aufklärungsgesprächen) sowie durch konsequente Sanktionen (als weitere „pädagogische Maßnahme“ für diejenigen, die gesprächlich nicht erreichbar sind).

Meines Wissens gibt es derzeit zwar diverse Versuche, standardisierte Messverfahren zu entwickeln, um Verstöße gegen Mindest-Überholabstände auch sachgerecht und jurisitsch wasserdicht zu ermitteln, mir ist allerdings nicht bekannt, ob diese auch schon behördlich eingesetzt werden.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, um diese gefährlichen Verstöße gerade jetzt ganz akut und perspektivisch (vielleicht juristisch noch wasserdichter) verfolgen und ahnden zu können?

Was übrigens noch erschwerend hinzukommt, ist, dass es Fahrradfahrenden kaum möglich ist, solche Verstöße beweiskräftig zur Anzeige zu bringen. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe (außer „Aussage einzelne/r RadlerIn gegen Aussage Pkw-Insaßen“), ist der Gebrauch einer Kamera, welcher einen in eine datenschutzrechtliche Grauzone führt und gegebenefalls sogar zu einer Illegalisierung der Opfer(-Beweise) führen kann. Ich finde das paradox.

Wie sieht dies von behördlicher Seite aus? Wären mit Kamera und Beamten ausgestattete Dienst-Fahrräder, -Pedelecs, -Motorräder und -Pkw nicht geeignet, um solche Verstöße zumindest insofern zu ahnden, dass man die/den Verstoßende/n ansprechen und mit Videomaterial „pädagogisch“ hinsichtlich der Gefährlichkeit ihres/seines Fehlverhaltens sensibilisieren kann?

Apropos Sensibilisierung. Ich möchte ebenfalls anregen, dass die zuständigen BeamtInnen, falls nicht schon ausreichend geschehen, für das Thema Mindestabstand beim Überholen von Radfahrenden sensibilisiert werden. Ferner sollten sie auch dahingehend sensibilisiert werden, sich für gefährdende Verstöße des ruhendes Verkehrs zuständig zu fühlen, so wie es laut polizei.nrw (https://polizei.nrw/faq/ueberwachung-ruhender-verkehr) vorgesehen ist. Leider machen Radfahrende in Düren immer noch andere Erfahrungen. Ich sehe auch Möglichkeiten für die Ordnungsämter, diese Verstöße intensiver und effektiver per Zweirad zu kontrollieren.

Um die Dringlichkeit noch einmal zu verdeutlichen, sende ich in der Anlage zwei Screenshots und hier den Link zu dem dazugehörigen, achtsekündigen Video, welches ich gestern aufgenommen habe. (Ich habe einen Rückspiegel, der zwar den Abstand noch verringert, mich aber glücklicherweise auch immer wieder vorwarnt!) Würden solche Fotos/Videos nicht als belastbares Beweismaterial dienen können? Aus meiner Sicht gibt es genügend Bezugspunkte, um die Unterschreitung des Mindestabstandes schon augenscheinlich nachzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen

Elmar Farber

Update:

Email am 28. Juni 2020:

Sehr geehrter Herr Spelthahn,

als Ergänzung zu meiner Email vom 11. Juni sende ich Ihnen noch einige Links zu „Projekten“, die schon mit Abstands-Messgeräten arbeiten bzw. diese erproben.

Sind ähnliche Techniken auch für Düren vorgesehen?

Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung.

https://interaktiv.tagesspiegel.de/radmesser/kapitel5.html
Siehe hierzu auch:
https://www.elektroniknet.de/elektronik-automotive/assistenzsysteme/abstandsmessung-mit-arduino-system-156974.html

https://salzburg.orf.at/v2/news/stories/2873544/

https://www.timesfreepress.com/news/local/story/2015/jun/07/3-feet-or-else/308339/

https://wiki.natenom.de/verkehr/projekte/abstandsmesser/openbikesensor

Mit freundlichen Grüßen
Elmar Farber

Update

11.07.2020: Die Antwort des Landrats liegt vor: